Stolz vs. Arroganz: Wie wir Selbstwert und Überheblichkeit verwechseln
- Enrico Fonte
- 5. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Stell dir vor, du stehst an einer Weggabelung, und jeder Weg spiegelt eine unterschiedliche Sichtweise auf Stolz vs. Arroganz wider. Der eine führt durch eine individualistische Gesellschaft, in der Selbstbewusstsein oft dominiert, und der andere schlängelt sich durch eine kollektivistische Gemeinschaft, in der Harmonie das oberste Ziel ist. Diese Wege verdeutlichen einen faszinierenden Kontrast, wie Kulturen und die Psychologie diese Emotionen interpretieren.
Stolz vs. Arroganz
Im Kern ist Stolz ein Gefühl, das wir alle kennen: das Strahlen nach einer erreichten Leistung, die Zufriedenheit, wenn ein Ziel verwirklicht wurde oder man über sich selbst hinausgewachsen ist. Psycholog*innen wie Jessica Tracy und Richard Robins bezeichnen diese Emotion als „authentischen Stolz“. Es ist die reine, innere Zufriedenheit, die mit Fortschritt und Selbstwert verbunden ist.
Arroganz hingegen fühlt sich anders an. Sie ist die Überzeugung, dass man nicht nur etwas Großartiges erreicht hat, sondern dass dies einen grundsätzlich über andere erhebt. Während Stolz einen von innen stärkt, richtet sich Arroganz nach außen, indem sie andere herabsetzt und sich selbst erhöht.
Das Spannende daran ist, dass diese Konzepte nicht universell sind. Ihr Verständnis verändert sich je nach kulturellem Blickwinkel.
In kollektivistischen Kulturen: Stolz kann gefährlich sein
In Kulturen, in denen die Gruppe an erster Stelle steht—denke an Japan, China oder Korea—kann Stolz ein zweischneidiges Schwert sein. Hier geht es im Leben nicht darum, aufzufallen, sondern sich einzufügen, Harmonie zu bewahren und zum kollektiven Wohl beizutragen.
Stell dir ein kleines, eng verbundenes Dorf vor, in dem jeder jede*n kennt und Beziehungen tief verwoben sind. In einem solchen Umfeld könnte das offene Feiern von individuellen Erfolgen nicht als bewundernswert angesehen werden. Stattdessen könnte es das empfindliche Gleichgewicht von Gleichheit und Respekt stören.
Wenn beispielsweise jemand in einer Versammlung aufsteht und sagt: „Schaut, was ich erreicht habe!“, könnte das Unbehagen auslösen. Die Menschen könnten denken: Warum stellt sich diese Person über uns andere? In diesen Gesellschaften kann Stolz leicht als Arroganz wahrgenommen werden, besonders wenn er die Harmonie der Gruppe stört.
Demut hingegen wird hoch geschätzt. Sie ist ein Zeichen von Respekt gegenüber anderen und der Anerkennung, dass kein Erfolg allein erreicht wird. Deshalb neigen Menschen in ostasiatischen Kulturen oft dazu, ihre Leistungen herunterzuspielen und Dinge zu sagen wie: „Ich hatte nur Glück“ oder „Es war eine Teamleistung“, selbst wenn ihr eigener Beitrag entscheidend war. Es handelt sich nicht um falsche Bescheidenheit, sondern um kulturelle Etikette, die darauf abzielt, die Einheit zu bewahren.
In individualistischen Kulturen: Arroganz kann glänzen
Nun machen wir einen Abstecher in eine individualistische Gesellschaft, in der andere Regeln gelten. Hier steht nicht die Integration im Vordergrund, sondern das Hervorstechen. Denke an die Vereinigten Staaten oder viele Länder Westeuropas. In diesen Kulturen ist persönlicher Erfolg ein Zeichen von Stolz, und ihn zu zeigen, ist oft nicht nur akzeptabel, sondern notwendig.
Stell dir einen charismatischen Unternehmer*in vor, der oder die in einer Rede selbstbewusst sagt: „Ich habe dieses Unternehmen aus dem Nichts aufgebaut.“ In diesem Kontext würde eine solche Aussage kaum kritisiert werden. Im Gegenteil, sie könnte Bewunderung hervorrufen. Die Menschen könnten denken: Diese Person kennt ihren Wert und hat keine Angst, ihn zu zeigen.
In diesen Gesellschaften wird Stolz—sowohl authentischer als auch manchmal grenzwertig arroganter—oft mit Führungsstärke, Ehrgeiz und Selbstbewusstsein gleichgesetzt. Durchsetzungsvermögen und Selbstvermarktung gehören zum kulturellen Selbstverständnis, besonders in wettbewerbsorientierten Bereichen wie Wirtschaft oder Sport. Arroganz, wenn sie von Charisma begleitet wird, kann manchmal sogar als Selbstvertrauen umgedeutet werden.
Das bedeutet nicht, dass Arroganz immer bewundert wird, aber die Grenze zwischen Stolz und Arroganz kann verschwommener sein. Während kollektivistische Kulturen Arroganz als störend betrachten könnten, sehen individualistische Kulturen darin manchmal ein notwendiges Werkzeug für den Erfolg.
Was sagen die Studien?
Psychologische Theorien bieten ein Rahmenwerk, um diese kulturelle Spaltung zu verstehen. Geert Hofstedes Kulturdimensionentheorie erklärt, dass individualistische Kulturen großen Wert auf Autonomie und persönliche Erfolge legen, während kollektivistische Kulturen die gegenseitige Abhängigkeit und die Ziele der Gruppe betonen.
Emotionale Studien unterstützen diese Sichtweise. Forschungen zeigen, dass Stolz in kollektivistischen Gesellschaften weniger gefeiert und oft durch Bescheidenheit gemildert wird. In individualistischen Gesellschaften hingegen ist Stolz eng mit Status verknüpft und ein zentraler Bestandteil des sozialen Erfolgs.
Zum Beispiel hat eine Studie über ostasiatische Kulturen herausgefunden, dass Menschen es oft vermeiden, Stolz zu zeigen, um die Gruppendynamik nicht zu stören. Studien in westlichen Kontexten hingegen deuten darauf hin, dass Führungspersonen, die Selbstvertrauen ausdrücken—selbst wenn es an Arroganz grenzt—oft als kompetent und inspirierend wahrgenommen werden.
Eine Frage der Wahrnehmung
Letztendlich hängt es stark vom kulturellen Blickwinkel ab, ob Stolz gefeiert oder kritisiert wird und ob Arroganz toleriert oder abgelehnt wird. In kollektivistischen Kulturen riskiert Stolz, der das Individuum über die Gruppe stellt, als Arroganz eingestuft zu werden. In individualistischen Kulturen kann eine Prise Arroganz manchmal die geheime Zutat sein, um als selbstbewusst und erfolgreich wahrgenommen zu werden.
Beide Wege—ob durch das kollektivistische Dorf oder die individualistische Metropole—bieten Einblicke in die Essenz der menschlichen Natur. Das Verständnis dieser kulturellen Unterschiede ermöglicht es uns, unsere eigenen Emotionen und die anderer mit mehr Empathie zu navigieren. Schließlich kann das, was in einer Kultur als Arroganz wahrgenommen wird, in einer anderen einfach ein Ausdruck von Stolz sein.
Indem wir diese Nuancen erkennen, öffnen wir die Tür zu tieferen interkulturellen Verbindungen und einem reicheren Verständnis dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein.
Comments