Keine Willenskraft? Kein Problem – Wie Gewohnheiten wirklich wirken
- Enrico Fonte
- vor 6 Tagen
- 4 Min. Lesezeit

Der Körper weiß den Weg – auch wenn der Kopf streikt
Manchmal fehlt einfach die Kraft, etwas zu starten oder dranzubleiben. Nicht, weil man faul ist. Sondern weil das Nervensystem überfordert ist, die Gedanken rasen oder der Impuls, sich zu entziehen, stärker ist als der Plan.
Besonders bei neurodiversen Menschen – etwa mit ADHS, Autismus oder sensorischer Hochsensibilität – ist dieser Zustand kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck einer anderen Art, die Welt zu verarbeiten.
Und doch wünschen sich viele genau das: mehr Stabilität, mehr Zuverlässigkeit im Alltag, mehr Selbststeuerung – ohne sich permanent überwinden zu müssen.
Hier kommt ein kaum beachtetes, aber erstaunlich wirkungsvolles System ins Spiel: das endogene Cannabinoid-System, kurz ECS. Es ist kein „extra“ System, sondern Teil unseres Nervensystems – ein körpereigenes Netzwerk aus Rezeptoren, Botenstoffen und Enzymen, das den inneren Zustand steuert: Wie sehr wir unter Spannung stehen, wie gut wir uns regulieren, wie sicher wir uns fühlen.
Darüber hinaus es ist eng verbunden mit der Art, wie das Gehirn lernt – durch Wiederholung, durch Gefühl, durch körperliche Einbettung. Genau das macht es zum Verbündeten für alle, die sich mit klassischen Willenskraft-Strategien schwertun.
Â
Wie das Gehirn aus Wiederholung neue Wege formt
Wenn wir eine Handlung mehrfach im gleichen Zusammenhang ausführen – zur gleichen Zeit, mit ähnlicher Körperhaltung, im gleichen emotionalen Zustand –, beginnt das Gehirn, diese Erfahrung zu speichern.
Anfangs ist sie bewusst gesteuert, vom präfrontalen Kortex aus – dem Teil des Gehirns, der plant, reflektiert, abwägt. Doch je öfter die Handlung ausgeführt wird, desto stärker verlagert sie sich in die Basalganglien – in ein System, das für Bewegungsprogramme und Routinen zuständig ist.
Der Übergang ist messbar: Es feuern andere Areale, und die Handlung wird schneller, stabiler, weniger bewusst. Dieser Prozess – das Automatisieren durch Wiederholung – ist die Basis für jede Gewohnheit.
Und hier übernimmt das ECS eine entscheidende Rolle: Es bewertet die innere Situation während der Wiederholung. Wenn diese mit positiven, ruhigen oder befriedigenden Empfindungen verknüpft ist, wird das Verhalten als lohnend registriert. Das ECS wirkt als emotionaler Verstärker – es verstärkt, was sich gut anfühlt, und hilft dem Gehirn, genau das zu speichern.
Â
Wenn der präfrontale Kortex schwächelt – ECS als innere Brücke
Bei neurodiversen Menschen ist der präfrontale Kortex oft weniger stabil aktivierbar. Das kann sich zeigen in Impulsdurchbrüchen, Konzentrationsproblemen, emotionaler Überflutung oder starker Ablenkbarkeit. Klassische Selbststeuerung fällt schwer.
Genau deshalb ist der Aufbau stabiler Routinen hier nicht durch Anstrengung möglich, sondern über einen Umweg: Gefühl → Körper → Wiederholung → Speicherung.
Das ECS reguliert dabei viele zentrale Prozesse: Es beruhigt überaktive Nervenzellen im präfrontalen Kortex, fördert die Ausschüttung von Anandamid – einem Botenstoff, der Stress reduziert –, und hilft, irrelevante Reize auszublenden. Das bedeutet: Es schafft die Voraussetzung, damit der präfrontale Kortex überhaupt wieder Zugriff bekommt auf zielgerichtetes Verhalten.
Â
Emotionale Verankerung: Warum Dopamin und Endocannabinoide zusammenarbeiten
Wenn eine Handlung mit angenehmen Gefühlen verknüpft ist – etwa Freude, Ruhe oder das Gefühl von Kontrolle – wird Dopamin ausgeschüttet. Dieser Neurotransmitter ist zentral für Motivation und Belohnung.
Das ECS und das dopaminerge System sind eng miteinander verschaltet: Endocannabinoide steigern die Freisetzung von Dopamin im ventralen Striatum, dem Zentrum für Belohnungsverarbeitung. So wird die Wiederholung nicht nur möglich – sie wird gewünscht.
Das erklärt, warum neurodiverse Menschen mit intensiver Reizverarbeitung oft besonders empfänglich für stimmige Gewohnheiten sind: Wenn eine Handlung nicht nur logisch „sinnvoll“, sondern körperlich und emotional als wohltuend empfunden wird, entsteht ein innerer Antrieb, sie zu wiederholen. Das ECS merkt sich diese Erfahrung – und macht sie verfügbar.
Â
Wenn Stress den Zugriff blockiert – das ECS als Puffer
Stress führt zu einer Aktivierung der HPA-Achse – dem zentralen Stresssystem im Körper. Cortisol und Noradrenalin steigen an, die Kontrolle über Gedanken, Impulse und Emotionen sinkt.
Besonders bei ADHS oder Autismus kann eine solche Überreizung zu Blackouts, Rückzug oder Überforderungsreaktionen führen. Das ECS hat die Fähigkeit, diese Reaktion abzupuffern: Es bremst die HPA-Achse, reduziert die Ausschüttung von Stresshormonen und schützt so die Zugänglichkeit zum präfrontalen Kortex.
Damit entsteht inmitten von Überreizung ein innerer Raum, in dem Wiederholung überhaupt erst möglich wird. Ohne diesen Raum scheitern viele Versuche, eine neue Gewohnheit zu etablieren – nicht, weil die Person unfähig ist, sondern weil das System zu stark unter Druck steht.
Â
Was Gewohnheiten wirklich brauchen – und was sie blockiert
In vielen Ratgebern heißt es: „Bleib flexibel. Variiere Deine Routine.“ Doch genau das ist für neurodiverse Personen oft ein Rezept für Instabilität.
Das Gehirn verknüpft eine Handlung mit Kontext – mit Tageszeit, Umgebung, Sinneseindrücken. Wenn dieser Kontext ständig wechselt, kann sich keine stabile Basalganglienschleife bilden. Das ECS, das Sicherheit durch Wiederholung vermittelt, wird nicht aktiviert. Die Handlung bleibt kognitiv gesteuert – anstrengend, anfällig, ermüdend.
Noch destruktiver wirkt es, wenn Routinen gegen innere Widerstände durchgezogen werden – aus Pflichtgefühl, Angst oder dem Wunsch, „es richtig zu machen“. Die Insula, das Zentrum für Körperwahrnehmung, erkennt diesen inneren Widerspruch. Das ECS schaltet ab. Die Handlung verliert ihren emotionalen Gehalt. Sie wird mechanisch, seelenlos – und erzeugt genau das, was sie vermeiden sollte: Erschöpfung und Ablehnung.
Â
Der BodyMind-Weg: Gewohnheiten, die sich einbetten statt durchgesetzt werden
In der BodyMind-Therapie verstehen wir Gewohnheiten nicht als mentale Disziplin – sondern als körperlich-emotionale Pfade. Sie entstehen nicht durch Kampf, sondern durch Wiederholung, die sich gut anfühlt.
Eine Gewohnheit ist wie ein Trampelpfad im Nervensystem. Je öfter er begangen wird, desto sicherer wird er. Und je sicherer er ist, desto eher geht der Körper ihn von selbst.
Das ECS spielt dabei eine tragende Rolle: Es stabilisiert, verstärkt, schützt. Es ist die Brücke zwischen einer Handlung, die sich noch fremd anfühlt, und einem Verhalten, das sich irgendwann vertraut anfühlt – nicht weil es oft genug gedacht wurde, sondern weil es sich oft genug gut angefühlt hat.
Â