Der Preis des Funktionierens: Maske sein und Archetyp leben
- Enrico Fonte
- 12. Dez.
- 6 Min. Lesezeit

Ein hilfreiches Beispiel, um den Unterschied zwischen Maske und Archetyp im Bodymind-System einzuführen, ist People-Pleasing in intimen Beziehungen.
Wenn eine Person, um Konflikte zu vermeiden, sich ständig an die Erwartungen der anderen anpasst und die eigenen Bedürfnisse zurückstellt, trägt sie eine Maske: ein konstruiertes Gesicht, das scheinbare Harmonie sichert, aber auf Dauer sowohl die psychophysische Gesundheit als auch die Qualität der Beziehung teuer zu stehen kommt.
Die Maske steht für die Anpassung an ein äußeres Bild, das häufig der inneren Wahrheit widerspricht. Sie kann als momentane Verteidigung dienen; wird sie jedoch zur festen Identität, erstickt sie die Lebendigkeit.
Der Archetyp hingegen ist die bewusste Aktivierung eines symbolischen Musters des wahren Selbst: kein Verkleiden, um anderen zu gefallen, sondern eine innere Ressource, die Verhalten, Emotionen und Entscheidungen in stimmige Bahnen lenkt.
In diesem Sinn erlaubt das Leben in Archetypen, der Erfahrung Form und Bedeutung zu geben, während der begrenzte und bewusste Einsatz der Maske zu einer Schutzstrategie wird – ohne in Identifikation zu kippen.
Genau hier zeigt sich „der Preis des Funktionierens in der Maske“ gegenüber dem „Verwirklichen der eigenen Archetypen“.
Die Maske: Anpassung und Falsches Selbst
Donald Winnicott beschrieb das Falsche Selbst als eine defensive Konstruktion, die aus der frühen Anpassung an elterliche Erwartungen entsteht. Das Kind entwickelt Verhaltensweisen, die Akzeptanz und soziales Überleben sichern – zum Preis der Opferung spontaner Ausdruckskraft.
Neurobiologisch entspricht dies sozialen Regulationsprozessen, die durch Amygdala und präfrontale Kortexnetzwerke vermittelt werden: Man lernt, echte Impulse zu hemmen, um sicherere, konfliktärmere Schemata zu aktivieren.
Wenn diese Anpassung zur chronischen Gewohnheit wird, gerät der Körper in einen Zustand wiederholten Stresses und akkumuliert allostatische Last – die biologische „Abnutzung“ durch dauerhafte Aktivierung neuroendokriner Stresssysteme, mit veränderten Cortisolverläufen und autonomen Vermittlern. Dieses Kernkonzept moderner Stressbiologie erklärt, wie prolongiertes Maskieren in somatische und psychische Vulnerabilität münden kann.12
In den Sozial- und Kognitionswissenschaften lässt sich die Maske auch als Strategie des Impression Management verstehen – die fortlaufende Anpassung der gezeigten Identität an Gruppennormen. Der Preis ist die Dissonanz zwischen erlebt-gelebtem und dargestelltem Selbst, verbunden mit erhöhtem Überwachungsaufwand.
Hier greift die Idee vom Verbrauch bzw. der Umlenkung von Selbstregulations-Ressourcen: Maske-Aufrechterhaltung benötigt inhibitorische Kontrolle, selektive Aufmerksamkeit und metakognitives Monitoring – allesamt präfrontal „teure“ Funktionen.
Die klassische Ressourcen-Theorie der Selbstkontrolle wurde partiell infrage gestellt; aktueller sprechen Forscher:innen von dynamischen Verschiebungen in Motivation und Aufmerksamkeit nach Anstrengung, die die Fähigkeit zur Selbstregulation kurzfristig mindern.
Das präzisiert den Punkt: Die Ermüdung der Maske ist kein „Tank, der leerläuft“, sondern ein Re-Balancing kognitiver und emotionaler Prioritäten, das man in erhöhter Reaktivität und Impulsivität bezahlt.34
Im Bodymind-Sinn zeigt sich diese Dynamik leiblich: Muster von Hypertonus, flacherer Atmung und ökonomischeren, aber weniger spontanen Bewegungen.
Die psychophysiologische Literatur verbindet solche Zustände mit geringerer Flexibilität der autonomen Regulation; technisch spricht man von reduzierter Herzfrequenzvariabilität und verminderter Integration kognitiver, affektiver und autonomer Netzwerke – wie es das Modell der neuroviszeralen Integration beschreibt.56
Der Archetyp: Aktivierung des wahren Selbst
C. G. Jung verstand Archetypen als universelle Matrizen psychischer Erfahrung. Werden sie nicht passiv „erlitten“, sondern erkannt und bewusst aktiviert, wird der Archetyp zur existentiellen Strategie.
Es ist keine soziale Imitation, sondern eine symbolische Wahl: etwa den Archetyp des/der Krieger:in nicht, um zu gefallen, sondern um in einer realen Situation gezielt auf Mut und Disziplin zurückzugreifen. Diese Lesart bleibt auf der jungianischen Ebene theoretisch, lässt sich aber zeitgenössisch als Nutzung tiefer narrativer Schemata fassen, die Motivation und Handeln organisieren.7
Der wissenschaftlich interessante Unterschied: Hier findet keine Verfälschung des Selbst statt, sondern Integration. Die kognitions- und neurowissenschaftliche Forschung zur Identität zeigt, dass Identität kein fixes „Wesen“ ist, sondern ein dynamisches narratives System, das Körpersignale, Erinnerungen und Projekte integriert.
Archetyp-Aktivierung heißt in dieser Perspektive, ein narratives „Format“ zu nutzen, das Wahrnehmungen, Gefühle und Entscheidungen mit dem eigenen Sinn für personale Kontinuität in Einklang bringt.
Diese Kohärenz zahlt sich regulatorisch aus: mehr Agency, bessere Stressbewältigung und – physiologisch – flexiblere autonome Profile. Antonio Damasio beschreibt diese Ebene als autobiographisches Selbst, in dem Erzählung zeitlich verkörperte Muster integriert.89
Hier setzt der kognitive Reframing-Prozess (Cognitive Reappraisal) an: die absichtsvolle Umdeutung eines Ereignisses, um dessen emotionale Wirkung zu modulieren. Diese Strategie ist gut belegt: Wer Misserfolg als Lernschritt oder Herausforderung als Chance umdeutet, verändert Emotionsmuster, Aufmerksamkeit und Verhalten.
Körperlich-verkörpert gedacht funktioniert die archetypische Aktivierung wie ein inkorporiertes Reappraisal: Das Symbol führt Haltung, Tonus und Atem in Übereinstimmung mit dem gewählten Sinn – und verändert messbar die physiologische Reaktion.1011
Entscheidender Unterschied: Verstellung versus Symbolisierung
Um die Kehrseite zu zeigen, denken wir an einen hochkompetitiven Geschäftstermin. Hier ist die Maske funktional: Eine Führungsperson muss die Erwartungen der Stakeholder erfüllen, Souveränität und Diplomatie zeigen, auch wenn innerlich anderes spürbar ist.
Das ist ein „gesundes“ Maskenbeispiel, weil es erlaubt, sich in einem Kontext zu bewegen, in dem der authentische Archetyp nicht sofort erscheinen kann. Dennoch hat dieser Schutz einen Preis: Stress, Distanz zum realen Selbst und das Risiko von Rigidität.
Deshalb ist es zwar natürlich und bisweilen notwendig, die Maske zu tragen; langfristig sollte das Leben jedoch im Archetyp des authentischen Selbst verwurzelt sein, um Energie, Kohärenz und wahrhaftigere Beziehungen zu erhalten.
Die Maske funktioniert wie ein äußerer Code: „Wenn du nicht so bist, wirst du nicht akzeptiert.“ Der Archetyp funktioniert wie ein symbolischer Code: „Wenn du dieses Muster evozierst, kannst du einer Facette deines Wesens Form und Sinn geben.“ Im ersten Fall wird das Selbst eingeengt, im zweiten erweitert.
Evolutionspsychologisch entsteht die Maske aus der Angst vor Ausschluss und Zurückweisung, während sich der Archetyp in der Suche nach geteiltem Sinn verankert.
Leibhafter betrachtet: Die Maske versteift, der Archetyp vitalisiert – ein Körper in Maske neigt zu tonischer Abwehr und Atemanhalten; ein Körper im Archetyp organisiert sich in effizienteren, zielkongruenten Bewegungsmustern.
In der Selbstpsychologie spiegelt sich dies als Selbst-Diskrepanzen zwischen gelebter Identität und idealen oder normativen Identitäten, die affektive Kosten verursachen; der bewusst genutzte Archetyp verringert dieses Gefälle, indem er Bedeutungen in die eigene Lebensgeschichte integriert.12
Kurzer evidenzkritischer Hinweis
„Allostatische Last“ ist ein etabliertes, aber heterogen gemessenes Konstrukt; es existiert kein einheitlicher Goldstandard der Biomarkerzusammenstellung.
Die Debatte um „Ego Depletion“ zeigt, dass sich Ressourcenerklärungen durch prozessuale Modelle (Motivation/Aufmerksamkeit) ergänzen oder ersetzen lassen; Replikationsbefunde sind gemischt. HRV-Befunde im Rahmen der neuroviszeralen Integration sind überwiegend korrelativ; Kausalität wird erst in neueren Interventionsstudien angedeutet.
Jungianische Archetypen sind kultur- und theoriegeschichtlich bedeutsam, gelten aber in der experimentellen Psychologie teils als schwer falsifizierbar – ihre Nutzung hier ist bewusst metaphorisch-heuristisch.
Quellen
McEwen, B. S. (1998). Stress, adaptation, and disease: Allostasis and allostatic load. Annals of the New York Academy of Sciences, 840, 33–44. (Europe PMC) ↩
Department of Veterans’ Affairs (Australien) (2012/2025). Allostatic Load: A Review of the Literature. Canberra: DVA. Abrufbar als Überblicksdokument. (Veteranenangelegenheiten) ↩
Inzlicht, M. & Schmeichel, B. J. (2012). What is ego depletion? Toward a mechanistic revision of the resource model of self-control. Trends in Cognitive Sciences, 16(6), 450–455. (Übersichtsartikel/Prozessmodell). (PubMed) ↩
Inzlicht, M., Berkman, E. & Elkins-Brown, N. (2014/2015). The neuroscience of “ego depletion”: how the brain can help us understand why self-control seems limited. In: Social Neuroscience (Routledge). (Preprint/Manuskript verfügbar). (sanlab.uoregon.edu, Michael Inzlicht, Michael Inzlicht) ↩
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Thayer, J. F. et al. (2012). A meta-analysis of heart rate variability and neuroimaging studies: implications for heart rate variability as a marker of stress and health. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 36(2), 747–756. (Offener Überblicksartikel/Preprints verfügbar). (PubMed, ScienceDirect) ↩
Jung, C. G. (1968/2010). The Archetypes and the Collective Unconscious (CW 9,1). Princeton University Press. (Digitalisierte Auszüge/Archivexemplare verfügbar). (Internet Archive, jungiancenter.org) ↩
Damasio, A. (2010). Self Comes to Mind: Constructing the Conscious Brain. Pantheon. (Bibliographische Nachweise / frei zugängliche Archivseiten). (Internet Archive, USC Dornsife) ↩
McAdams, D. P. (2001). The Psychology of Life Stories. Review of General Psychology, 5(2), 100–122. (Narratives Selbst als Identitätsformat). (self-definingmemories.com) ↩
Ochsner, K. N. & Gross, J. J. (2005). The cognitive control of emotion. Trends in Cognitive Sciences, 9(5), 242–249. (Übersicht zu Reappraisal). (Semantic Scholar) ↩
Buhle, J. T. et al. (2014). Cognitive Reappraisal of Emotion: A Meta-Analysis of Human Neuroimaging Studies. Cerebral Cortex, 24(11), 2981–2990. (Open-Access-PDF verfügbar). (canlab.yale.edu) ↩
Higgins, E. T. (1987). Self-Discrepancy: A Theory Relating Self and Affect. Psychological Review, 94(3), 319–340. (Klassische Theorie zu Selbst-Diskrepanzen). (persweb.wabash.edu) ↩