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Mein Bruder hat Nazi gewählt. Was tun?10 Do’s und 10 Don’ts der Deeskalation


Illustration zweier wütender Gesichter in Rot und Blau, die sich gegenüberstehen – symbolisch für hitzige Diskussionen und emotionale Eskalation.

Bevor man sich fragt, wie man mit einer Person spricht, die nationalistische oder neonazistische Ideen unterstützt, lohnt es sich, kurz innezuhalten und zu fragen: Warum kommt jemand überhaupt so weit? Nicht um zu rechtfertigen, sondern um zu verstehen.


Verstehen ist der einzige Weg, nicht nur mit Wut zu reagieren, sondern mit Klarheit und Verantwortung. Denn hinter jeder Ideologie des Hasses steckt fast immer eine Geschichte von Angst, Verlust oder unerfülltem Bedürfnis.

 

Wenn das innere Tier die Kontrolle übernimmt


In der BodyMind Therapy sprechen wir oft vom inneren Tier – dem instinktiven Anteil, der auf Überleben programmiert ist. Es lebt in den ältesten Bereichen des Gehirns und im Körper. Wenn es sich bedroht fühlt, denkt es nicht – es greift an, flieht oder erstarrt.

Diese Energie ist nicht „böse“: Sie ist unsere ursprüngliche Kraft, die uns schützt. Doch wenn sie zu lange aktiv bleibt, verwandelt sich Angst in Aggression. Viele extremistische Ideologien entstehen genau hier: aus einem verängstigten inneren Tier, das Sicherheit in einer Gruppe sucht, die Schutz verspricht.

Die Neurowissenschaft zeigt, dass das Gehirn unter Stress und Unsicherheit seine Fähigkeit zur Empathie und zum komplexen Denken reduziert. Die Amygdala – das Angstzentrum – übernimmt die Kontrolle, während der präfrontale Kortex, der für Reflexion zuständig ist, verlangsamt wird.

Einfach gesagt: Wenn wir uns in Gefahr fühlen, hören wir auf, ruhig zu denken, und beginnen, ums Überleben zu denken.


Wer sich einer extremistischen Gruppe anschließt, findet darin eine Erklärung für das eigene Unbehagen: „Ich bin nicht das Problem – die anderen sind es.“Das ist die Sprache des verletzten Tiers: Angst, die sich als Stärke verkleidet.

 

Das innere Kind und der Hunger nach Zugehörigkeit


Neben dem inneren Tier erkennt die BodyMind Therapy das innere Kind – den emotionalen, verletzlichen Teil, der nach Liebe, Anerkennung und Zugehörigkeit hungert. Auch die härtesten Menschen tragen in sich ein Kind, das gesehen, beschützt und gehalten werden will.


Viele ehemalige Neonazis erzählen, dass vor der Ideologie die Einsamkeit kam. Das Gefühl, ausgeschlossen, gedemütigt oder bedeutungslos zu sein.

Die Gruppe, mit ihren Ritualen, Symbolen und Regeln, erscheint dann wie eine neue Familie. Sie nennt dich „Bruder“, gibt dir einen Platz, eine Rolle, einen Sinn. Und das innere Kind – das sich endlich zugehörig fühlt – entspannt sich, auch wenn die Liebe, die es bekommt, bedingt und gewalttätig ist.

Von außen sehen wir nur Wut; von innen steckt dahinter ein Bedürfnis nach Liebe, das sich als Ideologie tarnt.

 

Wenn Tier und Kind sich in der Angst begegnen


Extremistische Ideologien entstehen oft dort, wo diese beiden Kräfte sich treffen. Das innere Tier sucht Sicherheit; das innere Kind sucht Zugehörigkeit.

Gemeinsam schaffen sie ein starkes Band: „Wenn ich zu meinem Rudel gehöre, bin ich sicher und geliebt.“Das ist ein zutiefst körperlicher Mechanismus: Adrenalin vermittelt Stärke, Nähe im Rudel setzt Oxytocin frei – das „Bindungshormon“ – und das Gehirn interpretiert all das als Identität und Sinn.


Doch wenn Zugehörigkeit auf Ausschluss basiert, wird dieselbe Energie, die ursprünglich schützen sollte, zerstörerisch. Hass ist nur organisierte Angst.

 

Die Person, die beobachtet – und erschüttert ist


Auch wer von außen zuschaut – etwa der Bruder, die Schwester oder die Freund:in, die entsetzt über die Nazi-Wahl eines Angehörigen ist – tritt in eine eigene archetypische Dynamik ein. Das innere Tier reagiert mit Angst oder Wut: „Wie kann man nur so etwas denken?“Das innere Kind fühlt sich verraten, verängstigt, ohnmächtig: „Die Welt ist nicht mehr sicher.“

In solchen Momenten sind das innere Kind ebenso erschüttert und das innere Tier ebenso verängstigt wie beim Bruder, der sich radikalisiert hat. Beide Anteile brauchen Sicherheit, Bedeutung und Kontakt.

Sich Selbstempathie zu geben bedeutet, die eigene Erschütterung ohne Urteil wahrzunehmen, die Angst im Körper zu spüren und sie als Zeichen der Verletzlichkeit – nicht der Schwäche – zu verstehen.

Gleichzeitig ist es entscheidend, Empathie bei Menschen zu suchen, die dieselben Werte teilen, damit man die Emotionen verarbeiten kann, ohne sie als Wut oder Abwehr auf den Angehörigen zu schleudern. Aggression und Angst auf den Familienmenschen zu „übergeben“, der anders denkt, heilt die Spaltung nicht – sie vertieft sie.


Der Körper geht in denselben Konfliktmodus: verspannte Muskeln, erhöhter Puls, flacher Atem. Natürlich, aber gefährlich – denn er verstärkt die Energie der Trennung. Nur wenn wir in uns selbst das ängstliche Tier und das leidende Kind erkennen, können wir zentriert bleiben, ohne impulsiv zu reagieren. Das ist der erste Schritt, um zu sprechen – statt zu kämpfen.

 

Identität, Angst und Sinnsuche


Sozialpsychologische Forschung zeigt, dass der Rückhalt in rigiden Ideologien häufig in Zeiten des Orientierungsverlustes oder Statusabstiegs entsteht. Wenn jemand nicht mehr weiß, wer er ist, wird eine Gruppe, die Identität und klare Regeln bietet, unwiderstehlich.

Es ist die Logik des „Wir gegen Sie“ – die Welt wird einfacher, das Chaos verschwindet.


Henri Tajfels Theorie der sozialen Identität beschreibt, dass persönlicher Wert aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe entsteht, die als „überlegen“ wahrgenommen wird. Die extremistische Gruppe wird so zur Prothese des verletzten Selbstwerts. Hass auf andere dient dazu, das brüchige Selbstgefühl zu stabilisieren.


Die BodyMind Therapy liest diesen Mechanismus ganzheitlich: Ideologie entsteht nicht nur im Kopf, sondern in einem Körper, der Sicherheit und Verbindung verloren hat. Wenn das Nervensystem zu lange im Zustand der Bedrohung verharrt, sucht der Mensch Halt – selbst in destruktiven Strukturen.

 

Verstehen heißt nicht rechtfertigen


Verstehen bedeutet nicht, zu akzeptieren oder zu verharmlosen. Es bedeutet anzuerkennen, dass Hass nicht im Vakuum entsteht, sondern dort wächst, wo Angst und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit keinen gesunden Ausdruck finden. Jedes Gespräch beginnt im Körper – im Atem, in der Haltung, im Tonfall.


Jedes Mal, wenn wir mit Verachtung reagieren, aktivieren wir das Abwehr-Tier des Gegenübers. Jedes Mal, wenn wir zentriert und menschlich bleiben, geben wir seinem inneren Kind die Möglichkeit zu spüren – wenn auch nur für einen Moment – dass es keinen Feind braucht, um zu existieren.

 

Vom Urteil zum Kontakt


Veränderung beginnt nicht, wenn jemand eine Diskussion verliert, sondern wenn er in sich spürt, dass er ohne Angst existieren darf.

Deshalb ist es entscheidend, nicht zu urteilen, sondern zu verstehen. Das Ziel ist nicht Überzeugung – sondern Raum zu schaffen.

 

Die Maske der Deeskalation in der BodyMind Therapy


In der BodyMind Therapy ist die Maske keine Lüge, sondern eine bewusste psycho-körperliche Haltung. Sie ermöglicht es, präsent und reguliert zu bleiben, auch wenn die Situation oder der Gesprächspartner verletzliche oder aggressive Teile aktiviert.

Eine geübte Maske hilft, authentisch zu bleiben, ohne in emotionales Chaos zu verfallen. Diese Fähigkeit erfordert Übung, Selbstwahrnehmung und Körperarbeit.

Im Gespräch mit einem Familienmitglied, das sich offen zu einer neonazistischen Partei bekennt, trainieren wir die Maske der Deeskalation: eine Haltung der ruhigen, neugierigen Präsenz. Ein weicher Körper, ein gleichmäßiger Atem, ein offener Blick – so bleibt der Geist klar und die Beziehung intakt.

 

Wie spreche ich mit meinem Bruder, der eine neonazistische Partei wählen will: Was sagen – und was nicht sagen


  1. Schaffe menschlichen Kontakt, keinen politischen.

    „Okay, erklär mir, was dich an ihnen überzeugt. Ich möchte verstehen, was du siehst, das ich nicht sehe.“

    Nicht sagen:

    „Bist du verrückt? Weißt du, was die Nazis getan haben?“


  2. Spiegle die Gefühle hinter der Wut.

    „Es klingt, als würdest du dich übergangen fühlen – als würde niemand auf die normalen Leute hören.“

    Nicht sagen:

    „Na klar, du bist auch so ein Populist geworden.“


  3. Bleib ruhig und offen im Körper.

    „Lass uns in Ruhe darüber sprechen. Mich interessiert wirklich, wie du das siehst.“

    Nicht sagen:

    „Ich kann mir das gar nicht anhören.“


  4. Stell neugierige Fragen, keine Fallen.

    „Was lässt dich glauben, dass diese Partei dein Leben wirklich verbessern kann?“

    Nicht sagen:

    „Hast du überhaupt das Programm gelesen oder nur Facebook-Memes?“


  5. Nutze Geschichten statt Anklagen.

    „Ich kenne jemanden, der früher auch so dachte, aber dann gemerkt hat, dass er sich im Groll verloren hat.“

    Nicht sagen:

    „Du bist wie diese fanatischen Typen bei den Aufmärschen.“


  6. Zeig deine Grenzen mit Respekt.

    „Wenn ich solche Aussagen höre, zieht sich in mir alles zusammen – es erinnert mich an unsere Familiengeschichte.“

    Nicht sagen:

    „Wenn du so weitermachst, schäme dich, mein Bruder zu sein.“


  7. Schlage gemeinsame Erfahrungen vor, keine moralischen Predigten.

    „Es gibt eine Veranstaltung, wo Geflüchtete und Einheimische zusammenarbeiten – ich würde gern mit dir hingehen.“

    Nicht sagen:

    „Du solltest endlich mal aus deiner Blase rauskommen.“


  8. Erkenne kleine Zeichen von Öffnung.

    „Ich finde es gut, dass du ruhig darüber sprechen kannst.“

    Nicht sagen:

    „Na endlich redest du wie ein normaler Mensch.“


  9. Beziehe ruhige Menschen ein, keine Streit-Allianzen.

    „Vielleicht könnten wir auch mit Onkel reden – er hat Geschichte studiert, aber ohne zu streiten.“

    Nicht sagen:

    „Warte nur, bis Papa das erfährt!“


  10. Akzeptiere, dass Veränderung Zeit braucht.

    „Ich erwarte nicht, dass du sofort anders denkst. Wichtig ist, dass wir weiterreden können.“

    Nicht sagen:

    „Mit dir kann man nicht mehr reden – fertig.“

 

Dinge, die man vermeiden sollte


  • Nicht laut werden.

  • Nicht lächerlich machen.

  • Nicht öffentlich bloßstellen.

  • Nicht die Familiengeschichte als Waffe benutzen.

  • Nicht jeden Fehler korrigieren.

  • Nicht abrupt das Gespräch beenden.

  • Nicht sagen: „Darüber reden wir nie wieder.“

  • Nicht andere Familienmitglieder in die Wut hineinziehen.

  • Kein Schuldgefühl erzeugen.

  • Und vor allem: niemanden als „hoffnungslos“ abstempeln.

 

Schlussgedanke


Mit einem Angehörigen zu sprechen, der sich zu einer neonazistischen Ideologie hingezogen fühlt, ist kein Akt der Bekehrung, sondern der Selbstregulation.

Die Maske der Deeskalation hilft, zentriert zu bleiben, wenn der Körper eigentlich reagieren will: atmen, die Füße spüren, die Stimme ruhig und warm halten.

Emotionale Sicherheit öffnet Räume, in die Logik nicht hineinreicht. Ruhe, Neugier und Respekt legitimieren den Hass nicht – sie entwaffnen ihn.

 

Quellen und Referenzen


  1. Porges, S. W. (2011). The Polyvagal Theory: Neurophysiological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, and Self-Regulation. Norton.

  2. LeDoux, J. (2015). Anxious: Using the Brain to Understand and Treat Fear and Anxiety. Viking.

  3. Tajfel, H., & Turner, J. C. (1979). An Integrative Theory of Intergroup Conflict. In: Austin, W. G. & Worchel, S. (Hrsg.), The Social Psychology of Intergroup Relations. Brooks/Cole.

  4. Sapolsky, R. M. (2017). Behave: The Biology of Humans at Our Best and Worst. Penguin Press.

  5. Payne, H., & St. Clair, M. (2020). BodyMind Approaches to Psychotherapy. Routledge.

  6. Siegel, D. J. (2020). The Developing Mind: How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are. Guilford Press.

  7. Kauffman, C. (2022). Compassionate Conversations: How to Speak and Listen from the Heart. North Atlantic Books.

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