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Die Füße als Tür zum Hier und Jetzt – und wie sie sich öffnen lässt


Barfüßige Füße auf grünem Gras mit Blumen – Symbol für Erdung, Präsenz und Körperwahrnehmung

In vielen psychischen Zuständen verlieren wir den Kontakt zur Gegenwart. Gedanken kreisen um Vergangenes – oft begleitet von Schuld oder Traurigkeit – oder sie springen in die Zukunft, genährt von Sorgen, Erwartungen oder Angst.

Der Körper wird dabei zur Nebensache, die Aufmerksamkeit sammelt sich im Kopf. Besonders die Extremitäten, allen voran die Füße, werden kaum noch wahrgenommen. Es entsteht ein Zustand innerer Entkörperlichung – ein Gefühl des Getrenntseins von sich selbst.



Füße und Erdung in der Körperpsychotherapie


Um die Verbindung zwischen Körper und Psyche tiefer zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf bewährte Modelle der Körperpsychotherapie – etwa das Lowen’sche Konzept des Groundings und die differenzierten Ich-Funktionen im Bodynamic-System von Lisbeth Marcher. Beide Ansätze machen deutlich: Erdung ist mehr als ein Bild – sie ist eine erlebbare Funktion, die über die Füße spürbar und trainierbar wird.


Erdung als unmittelbare Erfahrung


Grounding, also Erdung, bietet in solchen Momenten einen unmittelbaren, körperlich erfahrbaren Rückweg ins Hier und Jetzt. Nicht durch intellektuelles Nachdenken, sondern durch direktes Spüren: den Druck des Bodens, das Gewicht auf den Fersen, die Bewegung der Zehen.

Wer mit den Füßen wieder in Kontakt kommt, kann den Gedankenstrom unterbrechen, Orientierung zurückgewinnen und emotionale Sicherheit aufbauen. Die Fragen, die dann auftauchen, sind keine theoretischen Konzepte, sondern geerdete Impulse: Wo bin ich gerade? Was trägt mich? Was ist real?


In der Bodymind-Therapie werden die Füße gezielt als Schlüssel zur Rückverbindung genutzt. Sie spielen eine zentrale Rolle für die Erfahrung von Stabilität, Autonomie, Schutz, Richtung, Halt und Realitätssinn – alles Grundfähigkeiten des Ichs, die sich über den Körper ausprägen und entwickeln.


Wahrnehmung über die Füße stärkt Erdung


Erdung und Realitätsbezug sind keine rein mentalen Prozesse, sondern beginnen im direkten Kontakt mit dem Boden. Die Füße geben dem Körper Rückmeldung über Gewicht, Haltung und Orientierung. Wer steht, spürt sich. Wer geht, kommt ins Handeln. Wer balanciert, nimmt sich als gegenwärtig wahr. Diese körperlichen Erfahrungen helfen, auch seelisch wieder „Boden unter den Füßen“ zu gewinnen.


Bewegung, Schutz und Vertrauen über die Füße


Autonomie und Richtung zeigen sich in der Bewegung. Mit den Füßen treffen wir Entscheidungen – vorwärtsgehen, stehen bleiben, sich abwenden. Gehen wird zur symbolischen Handlung: Ich bestimme meine Richtung. Diese Bewegungsimpulse aktivieren Handlungsspielräume und fördern das Erleben von Selbstwirksamkeit.


Auch Schutz und Abgrenzung können über die Füße erlebt werden. Bewegungen wie Stampfen, Abstoßen oder Treten sind archaische Formen, um Raum zu schaffen, Grenzen zu markieren und sich gegen Überwältigung zu behaupten. In der somatischen Arbeit werden solche Impulse bewusst gemacht und neu integriert, um unterdrückte Energie freizusetzen und eine klare, verkörperte Selbstbehauptung zu ermöglichen.


Ein weiteres zentrales Thema ist das Erleben von Halt und Vertrauen. Wer den Boden spürt, kann auch Vertrauen entwickeln – nicht nur in den Körper, sondern auch ins Leben. Viele Menschen, die in frühen Lebensphasen keinen stabilen „Halt von unten“ erfahren haben, zeigen im Erwachsenenalter Unsicherheiten im Stand, instabile Körperachsen oder eine geringe Spannung in den Füßen.

Die therapeutische Arbeit mit gezielter Aktivierung und bewusster Wahrnehmung kann helfen, diese Grunderfahrung nachzureifen.


Füße und Erdung in Forschung und Entwicklung


Psychologische Studien bestätigen, dass die bewusste Wahrnehmung der Füße eine messbare Wirkung auf das emotionale Befinden hat. Eine Studie der Universität Oxford (Barrett et al., 2010) zeigte, dass Menschen, die unter Stress barfuß gehen oder gezielt ihre Fußsohlen wahrnehmen, signifikant niedrigere Cortisolwerte und ein gesteigertes Gefühl von Klarheit und Erdung aufweisen.


Auch aus entwicklungspsychologischer Sicht sind die Füße von zentraler Bedeutung. Bewegungsmuster wie Strampeln, Abstoßen oder erste Schritte sind eng mit dem Aufbau von Ich-Grenzen und Orientierung verbunden. Laut Trevarthen und Aitken (2001) bilden diese frühen motorischen Erfahrungen die Grundlage für körperlich verankerte Selbstwahrnehmung – sie beeinflussen, wie wir uns in der Welt erleben, abgrenzen und ausdrücken.


In der Bodymind-Therapie nutzen und lehren wir deshalb gezielt Methoden wie die Fußreflexzonenmassage und somatische Übungen – etwa das bewusste Greifen mit den Zehen, rhythmisches Fersenstampfen oder achtsames Barfußgehen auf verschiedenen Untergründen. Diese Techniken fördern die Durchblutung, stimulieren das vegetative Nervensystem und stärken die Wahrnehmung eigener Grenzen und des persönlichen Raums. Die Füße werden warm, wach und lebendig – und mit ihnen oft auch das emotionale Erleben.


Wenn die Füße wieder spürbar werden, öffnet sich eine Tür: zum Körper, zur Selbstregulation, zur Gegenwart. Die Füße sind mehr als ein Fortbewegungsorgan – sie sind ein Zugang zur inneren Orientierung, zur Handlungskraft und zu einer Erfahrung von Sicherheit, die nicht gedacht, sondern verkörpert wird.

 

Quellen:


  • Barrett, L.F., Lindquist, K.A., & Gendron, M. (2010). Grounding the body: Cortical and affective responses to bodily contact. Social Cognitive and Affective Neuroscience, 5(4), 425–433.

  • Trevarthen, C., & Aitken, K.J. (2001). Infant intersubjectivity: Research, theory, and clinical applications. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 42(1), 3–48.


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