Das Zwerchfell in der Körperpsychotherapie: Emotionale Regulation durch Atmung
- Enrico Fonte
- 16. Aug.
- 4 Min. Lesezeit

Unter all den Muskeln im menschlichen Körper gibt es einen, der besondere Aufmerksamkeit verdient: das Zwerchfell. Unsichtbar und doch lebenswichtig reguliert es nicht nur unsere Atmung, sondern auch Energie, Gefühle, Konzentration und Lebenskraft. Es ist ein echtes psycho-physisches Zentrum, das gleichzeitig als Beschleuniger, Bremse und sogar als Speicher körperlicher Erinnerungen funktioniert.
Das Zwerchfell ist nicht nur der Motor unserer Atmung, sondern begleitet uns wie kein anderer Muskel durch innere Übergänge – zwischen Aktivierung und Entspannung, Anspannung und Loslassen, Rückzug und Öffnung.
In diesem Artikel beleuchten wir seine Rolle aus physiologischer und psychologischer Perspektive, basierend auf der Entwicklungspsychologie nach Erik Erikson und dem Bodynamic-System, das Körper und Psyche zu einem funktionalen Ganzen verbindet【1】.
Zwerchfell und Entwicklungsphasen
Im Verlauf unserer Entwicklung ist das Zwerchfell weit mehr als ein Atemmuskel. In den ersten Lebensjahren hilft es uns, die Beziehung zu uns selbst und zur Welt zu formen.
In den ersten Monaten – Eriksons Phase des Urvertrauens【2】– vermittelt tiefes, fließendes Atmen über das Zwerchfell dem Säugling ein Gefühl von Geborgenheit. Nähe, Rhythmus, Wärme und Präsenz der Bezugsperson werden durch den Atem körperlich verinnerlicht. Ist diese Bindung unsicher oder unterbrochen, kann sich Spannung im Zwerchfell festsetzen – eine erste körperliche Form emotionaler Speicherung.
Zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr tritt das Kind in die Phase der Autonomie. Jetzt hilft das Zwerchfell, die neu entstehende Energie des „Ich will selbst!“ zu regulieren. Wenn das Umfeld diese Erkundung liebevoll unterstützt, bleibt der Atem offen und das Zwerchfell flexibel. Bei Scham oder Kontrolle hingegen beginnt der Körper, sich zurückzuhalten – das Zwerchfell spannt sich an, um starke Gefühle im Zaum zu halten.
Zwischen drei und sechs Jahren, in der Phase der Initiative, möchte das Kind sich ausdrücken, agieren und gestalten. Hier wird das Zwerchfell zu einem echten Energie-Modulator. Ist es frei, unterstützt es kreative Impulse und emotionale Ausdruckskraft. Ist es hingegen blockiert, hält es nicht nur den Atem zurück, sondern auch Wunsch, Wut oder Begeisterung. Solche chronischen Spannungen können sich im späteren Leben als Angst oder körperliches Unwohlsein zeigen.
Das Zwerchfell als Gaspedal
Ist das Zwerchfell gut funktional, versorgt es uns mit Energie. Jeder tiefe Atemzug bringt Sauerstoff in die Zellen, steigert die ATP-Produktion – unsere zelluläre Energiequelle – und fördert mentale Klarheit und Wachheit【3】. Der gleichmäßige Atemrhythmus stimuliert das Gehirn, insbesondere Bereiche für Aufmerksamkeit und Fokus【4】.
Darüber hinaus arbeitet das Zwerchfell eng mit der tiefen Bauchmuskulatur zusammen und stabilisiert den Rumpf. Das verbessert Haltung, spart Kraft und erhöht unsere Körperpräsenz. Wenn der Atem fließt und der Körper stabil ist, fühlen wir uns präsent, bereit und handlungsfähig.
Ein weiteres faszinierendes Phänomen ist die physiologische Kohärenz: Ein harmonischer Atemrhythmus synchronisiert Herzschlag, Atmung und Nervensystem. Dieser innere Gleichklang verbessert Reaktionsfähigkeit, Konzentration und emotionale Stabilität【5】.
Das Zwerchfell als natürliche Bremse
Gleichzeitig wirkt das Zwerchfell auch als Bremse. Bei langsamer, bewusster Ausatmung wird ein Entspannungsimpuls im Nervensystem ausgelöst. Der Cortisolspiegel sinkt【6】, der Herzschlag verlangsamt sich – der Körper wechselt in den Modus von „Ruhe und Regeneration“.
Dieser Effekt wird über den Vagusnerv vermittelt, der das Zwerchfell durchquert und beim Ausatmen aktiviert wird. So beruhigt sich das emotionale Zentrum im Gehirn (das limbische System), was Ängste, Wut und innere Unruhe mindert – eine biologisch verankerte Selbstregulationsfunktion, die oft ungenutzt bleibt.
Bei traumatischen Erlebnissen oder chronischem Stress verspannt sich das Zwerchfell häufig dauerhaft【7】. Der Körper hält inne, schützt sich, friert ein. Durch gezieltes Training – über Atmung, Berührung oder Bewegung – kann dieser Zustand gelöst werden. Dadurch entsteht wieder innerer Raum und Sicherheit.
Praxis: Seitliche Brustkorbatmung
Eine einfache, aber effektive Übung aus der Bodynamic-Methode kann helfen, das Zwerchfell wieder zu spüren und zu entspannen: Seitliche Brustkorbatmung.
Setze oder lege dich bequem hin, möglichst in einem ruhigen Raum. Lege deine Hände seitlich an den Brustkorb, direkt unter die Achseln. Atme langsam durch die Nase ein, und stelle dir vor, du atmest in die Seiten des Brustkorbs, sodass sich deine Rippen sanft gegen die Hände ausdehnen. Beim Ausatmen lässt du die Hände wieder zurücksinken. Wiederhole dies einige Minuten lang, ohne zu forcieren – der Körper findet dabei seinen eigenen Rhythmus.
Regelmäßig durchgeführt, macht diese Übung das Zwerchfell geschmeidiger, fördert emotionale Entlastung und stärkt das Gefühl von Zentrierung und Präsenz.
Ein besonderer Dank geht an Bodynamic International für dieses integrative Atem- und Körperbewusstseins-Training.
Zwerchfell und emotionale Erinnerung
In der Körperpsychotherapie zeigt sich immer wieder: Wird Spannung im Zwerchfell gelöst, kann dies emotionale Reaktionen auslösen – Weinen, Zittern, Bilder oder Erinnerungen.
Der Atem ist eng mit dem impliziten Gedächtnis verknüpft – also mit jener Form von Erinnerung, die nicht über Worte, sondern über den Körper gespeichert ist【8】. Das Lösen dieser Spannung kann eingefrorene Emotionen befreien und integrieren.
Was sagt die Forschung?
Mehrere Studien bestätigen heute, was Körpertherapien schon lange beobachten.
Ein achtwöchiges Atemtraining mit Fokus auf das Zwerchfell senkte signifikant den Cortisolspiegel, reduzierte negative Emotionen und verbesserte die Konzentration【9】.
Andere Arbeiten zeigen, dass die Atmung das zentrale Nervensystem, den Hirndruck, die Schmerzwahrnehmung und sogar die Durchblutung des Gehirns beeinflusst【10】. Gutes Atmen ist also nicht nur ein Gesundheitsaspekt – es ist ein Schlüssel zu ganzheitlichem Wohlbefinden.
Fazit
Das Zwerchfell ist unser innerer Grenzmuskel – zwischen Aktivität und Ruhe, zwischen Körper und Psyche, zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Wenn es frei schwingen kann, gibt es uns Energie und Klarheit. Wenn es loslassen darf, bringt es uns Ruhe und Regeneration. Und wenn es sich öffnet, zeigt es uns oft vergessene Anteile unseres Selbst.
Es zu trainieren – oder besser: ihm zuzuhören – ist eine einfache, aber tiefgehende Praxis. Schon ein paar Minuten am Tag können den Unterschied machen. Atemzug für Atemzug erinnert uns der Körper daran, dass es auch einen ruhigeren, lebendigeren, präsenteren Weg gibt, durchs Leben zu gehen.
Quellen:
Marcher, L. & Fich, S. (2009). Body Encyclopedia – Bodynamic Analysis
Erikson, E. (1950). Kindheit und Gesellschaft
Ma, X., Yue, Z., Gong, Z., et al. (2017). Studie: Diaphragmatic Breathing and Stress
Jerath, R., Jensen, M. (2025). Cardio-Respiratory-Cortical-Limbic Network
Thayer, J.F. et al. (2012). Heart rate variability and health: A neurovisceral integration perspective
Streeter, C.C., Gerbarg, P.L., et al. (2012). Effects of yoga on the autonomic nervous system...
Levine, P. (2010). Sprache ohne Worte: Wie der Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt
van der Kolk, B. (2014). Verkörperter Schrecken: Trauma heilen – ein neues Verständnis der Folgen traumatischer Erfahrungen
Ma et al., siehe oben
PMC 6070065 – The Influence of Breathing on the Central Nervous System