Schuldgefühle im Kind: Warum wir uns selbst die Schuld geben, wenn Eltern versagen
- Enrico Fonte
- 24. Juni
- 3 Min. Lesezeit

Für ein Kind ist Gerechtigkeit kein abstrakter Begriff, sondern eine verkörperte Erfahrung. Ein*e Elternteil ist gerecht, wenn emotionale Präsenz, Verlässlichkeit und die Fähigkeit vorhanden sind, auf körperliche und seelische Grundbedürfnisse des Kindes einzugehen. Wenn das geschieht, entsteht im Kind ein tiefes Gefühl von Würde: „Ich bin wertvoll, ich verdiene Fürsorge, ich kann der Welt vertrauen.“
Wenn diese Bedürfnisse jedoch dauerhaft übergangen oder verweigert werden, steht das kindliche Erleben vor einem inneren Dilemma: Wie kann es sein, dass jemand, der mich eigentlich schützen sollte, mich ignoriert, abwertet oder verletzt? Die naheliegendste – und psychisch erträglichste – Antwort ist, die Schuld bei sich selbst zu suchen. So entsteht der Mechanismus der primären Scham: „Ich bin nicht liebenswert → Es ist meine Schuld.“
Scham als Schutzschild gegen das emotionale Chaos
Sich selbst die Schuld zu geben ist nicht nur eine Folge, sondern eine bewältigende Strategie. Es verleiht einem innerlich chaotischen Erleben eine gewisse Ordnung. Wenn ich das Problem bin, besteht Hoffnung: Ich kann mich ändern, besser werden, mir Liebe verdienen. Wenn das Problem jedoch außerhalb liegt – in einer instabilen, kalten, inkonsistenten Bezugsperson – wird die Welt unsicher und das innere Erleben überwältigend.
Winnicott: Lieber schlecht in einer guten Welt
Donald Winnicott beschrieb, dass es für ein Kind psychisch erträglicher ist, sich selbst als „schlecht“ in einer „guten“ Welt zu erleben, als sich als „gut“ in einer feindlichen, chaotischen Welt zu empfinden. Diese unbewusste Entscheidung dient dem psychischen Überleben. Schuldgefühle werden zu einer affektiven Lösung – ein Versuch, eine Illusion von emotionaler Ordnung und Bindung aufrechtzuerhalten.
Klein: Schuld als Beginn der moralischen Entwicklung
Melanie Klein beschreibt, wie das Kind zunächst (in der schizoparanoiden Position) Bezugspersonen in „gute“ und „schlechte“ Anteile spaltet, um psychischen Schmerz zu vermeiden. In der depressiven Position beginnt das Kind, diese widersprüchlichen Aspekte zu integrieren. Daraus entsteht ein authentisches Schuldgefühl: wenn man erkennt, dass dieselbe Person sowohl geliebt als auch gefürchtet werden kann. Schuld wird nicht mehr nur zur Abwehr, sondern Teil der inneren Reifung.
Bion: Wenn das emotionale Containment fehlt
Wilfred Bion betont die Bedeutung der „Container-Funktion“ von Bezugspersonen – also die Fähigkeit, intensive emotionale Zustände des Kindes aufzunehmen, zu halten und zu transformieren. Wenn das fehlt, bleiben rohe Emotionen unverdaut – sogenannte Beta-Elemente. Das Kind kann sie nicht verarbeiten und entwickelt tiefgreifende Selbstzweifel. Die Scham wird zur Identität: „Ich bin falsch. Punkt.“
Der Weg zur Befreiung: Die kindliche Geschichte hinterfragen
In der therapeutischen Arbeit geht es darum, die inneren Geschichten zu erkennen, die wir uns erzählt haben, um zu überleben. Oft ist es nicht das traumatische Ereignis an sich, sondern die emotionale Bedeutung, die wir ihm gegeben haben, die uns fesselt. Wenn wir beginnen, diese innere Überzeugung zu hinterfragen – „Ich war nicht liebenswert → deshalb hat man mich so behandelt“ –, entsteht Raum für eine neue, befreiende Erzählung. Nicht um den Schmerz zu verneinen, sondern um unserem ursprünglichen Empfinden wieder Würde zu verleihen.
Schluss: Sich von der inneren Elternstimme lösen und sich selbst neu beeltern
Natürlich gibt es keine perfekten Eltern. Und auch unser kindliches Verständnis von „richtig“ und „falsch“ kann die Komplexität nicht erfassen: Als Kind verstehen wir nicht, dass unsere Eltern ihre eigene Geschichte, ihr eigenes Karma und ihre eigenen ungelösten Traumata tragen – oft geprägt von emotionaler Inkompetenz ihrer eigenen Eltern.
Heilung geschieht nicht durch Schuldzuweisung oder Rechtfertigung. Was wirklich zählt, ist die Lösung von der verinnerlichten Stimme des abwertenden, abwesenden oder kritischen Elternteils – und der gleichzeitige Aufbau einer neuen inneren Figur: eine liebevoller, einfühlsamer, präsenter innere*r Elternteil.
Diese Praxis des Reparenting – sich selbst so zu versorgen, wie man es gebraucht hätte – ist ein zentraler Schritt in der Bodymind-Therapie. Auf diesem Weg entsteht Vertrauen neu, Scham kann sich lösen, und es öffnet sich ein innerer Raum, in dem man sich endlich sicher, angenommen und würdig fühlen darf.
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