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Spiritualität in der Psychologie

Die Geschichte des Höheren Selbst und des Überbewusstseins


Silhouette eines Kopfes, durch den eine Treppe ins Licht führt, mit einer Person am Eingang

Das Höhere Selbst und das Überbewusstsein sind zentrale Konzepte, die die Schnittstelle zwischen Psychologie und Spiritualität darstellen. Diese Begriffe beschreiben Zustände und Ebenen des Bewusstseins, die über das alltägliche Ich hinausgehen und tiefere Einsichten, spirituelle Erfahrungen sowie Selbstverwirklichung ermöglichen. Im Laufe der Zeit haben verschiedene Theoretiker und Psychologen diese Ideen aus unterschiedlichen Perspektiven entwickelt und interpretiert. Hier ist ein Überblick über die Ursprünge, Entwicklung und Unterschiede dieser Konzepte.



Carl Gustav Jung: Das Selbst als Zentrum der Ganzheit


Carl Gustav Jung war einer der ersten bedeutenden Psychologen, der sich mit dem Konzept des Selbst beschäftigte. In seiner Analytischen Psychologie definierte er das Selbst als das Zentrum der gesamten Persönlichkeit, das sowohl bewusste als auch unbewusste Aspekte integriert. Sein Modell der Individuation beschreibt den Prozess, durch den eine Person ihre inneren Konflikte und unbewussten Aspekte integriert, um Ganzheit zu erreichen. Für Jung war das Selbst das übergeordnete Ziel der menschlichen Entwicklung, in dem der bewusste und unbewusste Teil des Individuums zusammenfinden und zu einer harmonischen Einheit verschmelzen. Jung betonte die Bedeutung des kollektiven Unbewussten, das archetypische Symbole und universelle Muster enthält, die zu einem tieferen Verständnis des Selbst führen können.


Obwohl Jung den Begriff "Höheres Selbst" nicht direkt verwendet, spiegeln seine Konzepte die spirituelle Dimension des menschlichen Bewusstseins wider. Der Prozess der Individuation und die damit einhergehende Entdeckung des inneren Selbstes könnten als eine Reise hin zu einer tieferen Ebene des Bewusstseins verstanden werden, die über das alltägliche Ich hinausgeht.



Roberto Assagioli: Das Überbewusstsein und die Psychosynthese


Roberto Assagioli, Begründer der Psychosynthese, beschäftigte sich explizit mit dem Höheren Selbst und dem Überbewusstsein. Im Gegensatz zu Jung, der sich stark auf das Unbewusste konzentrierte, richtete Assagioli seinen Fokus auf das Überbewusstsein, das er als Quelle höherer Inspiration, Intuition und spiritueller Weisheit ansah. Assagioli führte das Überbewusstsein als einen transpersonalen Bereich des Bewusstseins ein, der über das gewöhnliche Ego hinausgeht und spirituelle Werte, Ideale und eine tiefere Dimension des Seins umfasst.


In der Psychosynthese wird das Höhere Selbst als ein transpersonales Selbst beschrieben, das über das bewusste und persönliche Selbst hinausgeht. Assagioli unterschied zwischen dem persönlichen Selbst, das das bewusste Ego repräsentiert, und dem Höheren Selbst, das das spirituelle Zentrum des Menschen ist und ihn mit höheren Idealen, universellen Werten und spiritueller Weisheit verbindet. Für Assagioli war das Überbewusstsein der Bereich des Bewusstseins, der uns Zugang zu diesen höheren spirituellen Dimensionen ermöglicht und uns auf dem Weg zur Selbsttranszendenz begleitet.



Abraham Maslow: Selbstverwirklichung und das Höhere Selbst


In der positiven Psychologie spielt das Konzept des Höheren Selbst bei Abraham Maslow eine zentrale Rolle, insbesondere im Zusammenhang mit der Selbstverwirklichung. Maslow sah die Selbstverwirklichung als den höchsten Punkt der menschlichen Entwicklung in seiner Bedürfnishierarchie. Er betrachtete das Höhere Selbst als den Ausdruck des vollen Potenzials eines Menschen, der über die Erfüllung von Grundbedürfnissen hinausgeht und tiefer nach Sinn, Wahrheit und Authentizität strebt.


Maslow stellte fest, dass selbstverwirklichte Menschen durch ihre Suche nach einem tieferen Sinn des Lebens und ihrer Fähigkeit, authentisch zu sein, eine besondere Beziehung zu einem höheren Selbst entwickeln. Diese Menschen sind in der Lage, ihre eigenen Bedürfnisse und egozentrischen Wünsche zu überwinden und sich auf ein größeres, universelleres Ziel zu konzentrieren. Das Höhere Selbst in Maslows Theorie ist eng mit der Idee verbunden, dass das Individuum das volle Spektrum seiner menschlichen Fähigkeiten und Potenziale auslebt und dabei einen tieferen Sinn und Erfüllung erfährt.



Richard Schwartz: Das Höhere Selbst im Internal Family Systems (IFS)-Modell


Das Konzept des Höheren Selbst ist auch ein zentraler Bestandteil des Internal Family Systems (IFS) Modells von Richard Schwartz. Hier wird das Höhere Selbst als der Kern der Persönlichkeit definiert, der Qualitäten wie Mitgefühl, Klarheit und Ruhe verkörpert. Im IFS ist das Höhere Selbst eine bereits vorhandene Ressource, die hilft, innere Konflikte zu lösen und Harmonie zwischen den verschiedenen Teilen der Psyche zu schaffen.


Schwartz betont, dass jeder Mensch einen inneren Führer besitzt, der das Höhere Selbst darstellt und dabei hilft, die verschiedenen Anteile der Persönlichkeit zu integrieren. Diese Integration führt zu einem inneren Gleichgewicht, das es ermöglicht, bewusste Entscheidungen zu treffen und das eigene Leben in Harmonie mit den eigenen Werten und Zielen zu gestalten. Das Höhere Selbst im IFS-Modell ist eine heilende Kraft, die es dem Individuum erlaubt, seine inneren Wunden zu erkennen und zu heilen, während es zugleich ein tieferes Verständnis für die verschiedenen Facetten seiner Persönlichkeit entwickelt.



Spiral Dynamics: Höheres Selbst als transpersonales Bewusstsein


In der Theorie von Spiral Dynamics, die die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins in verschiedenen Stufen beschreibt, findet sich das Konzept des Höheren Selbst in den höheren Ebenen wieder, insbesondere auf den gelben (integralen) und türkisen (holistischen) Stufen. Auf diesen Stufen wird das Bewusstsein transpersonal, das Ego wird transzendiert, und das Individuum erkennt seine Verbindung mit der Welt und dem Universum. Hier wird das Höhere Selbst als eine Form von transpersonalem Bewusstsein verstanden, das nicht nur persönliches Wachstum, sondern auch das Bewusstsein für die Ganzheit der Existenz fördert.


Spiral Dynamics, entwickelt von Don Beck und Chris Cowan, beschreibt, wie sich das menschliche Bewusstsein durch verschiedene Stadien entwickelt, die jeweils unterschiedliche Werte und Denkmuster umfassen. In den höheren Stadien der Entwicklung wird das Bewusstsein ganzheitlich, und das Individuum begreift seine Verbindung zu einem größeren universellen Kontext. Das Höhere Selbst spielt hier eine entscheidende Rolle, indem es dem Individuum ermöglicht, die Trennung zwischen sich selbst und anderen zu überwinden und eine tiefere Einheit mit dem Kosmos zu erfahren.



Bodynamic-System: Höheres Selbst und Überbewusstsein durch Körperarbeit


Das Bodynamic-System, eine körperorientierte Entwicklungspsychologie, verknüpft das Höhere Selbst und das Überbewusstsein eng mit der Integration von Körper und Psyche. Im Bodynamic-System spielen Muskelgruppen und körperliche Reaktionen eine zentrale Rolle, da sie mit psychologischen Funktionen verknüpft sind, die während verschiedener Entwicklungsstadien entstehen. Dieses System nutzt detaillierte Bodymaps, um emotionale und psychologische Themen zu bearbeiten, indem es gezielt bestimmte Muskeln und Faszien anspricht, die mit dem Selbstwertgefühl, bewussten Entscheidungen und der Würde einer Person verbunden sind.


Das Höhere Selbst im Bodynamic-System wird als tiefes Selbstgefühl beschrieben, das durch die Arbeit mit dem Körper entwickelt wird. Durch die Analyse und die Arbeit mit den Muskeln, die bestimmten psychologischen Funktionen entsprechen, kann eine Person Zugang zu einem tieferen Bewusstsein und einer stärkeren Selbstwahrnehmung erlangen. Dieses Bewusstsein schafft oft ein Gefühl von innerer Sicherheit und ermöglicht es, sich auf gesunde Weise mit anderen Menschen zu verbinden, ohne die eigene Würde zu opfern.



Ken Wilber: Integrale Theorie und transpersonale Stufen


Ken Wilber erweiterte diese Konzepte und entwickelte in seiner Integralen Theorie ein umfassendes Modell des Bewusstseins, das von egozentrischen bis hin zu transpersonalen Stufen reicht. In den höheren Stufen seiner Theorie wird das Höhere Selbst als transpersonales Bewusstsein verstanden, das eine Einheit mit dem Universum erfahren kann.


Wilbers integrales Modell umfasst sowohl spirituelle als auch psychologische Konzepte und stellt eine Synthese verschiedener Denkrichtungen dar. Er argumentiert, dass das menschliche Bewusstsein in den höheren Stufen eine tiefe Einheit mit dem Kosmos erfahren kann, indem es das Ego transzendiert und eine Verbindung zu einer universellen Wahrheit herstellt.



Fazit


Die Konzepte des Höheren Selbst und der Überbewusstheit folgen der Entwicklung psychologischer Trends und spiegeln Veränderungen in verschiedenen Phasen der Psychologie wider. Ausgehend von der Tiefenpsychologie, eingeführt von Pionieren wie Carl Gustav Jung und Roberto Assagioli, fanden diese Konzepte fruchtbaren Boden in der Erforschung des Unbewussten und der Prozesse der Selbstverwirklichung und Individuation. Mit dem Aufstieg der Verhaltenspsychologie, die stark im Rationalismus und in der empirischen Wissenschaft verankert ist, wurden diese spirituellen und transpersonalen Themen jedoch teilweise zugunsten einer wissenschaftlicheren und quantitativeren Analyse des menschlichen Verhaltens zurückgestellt.


Eine Wiederbelebung dieser Ideen fand mit dem Aufkommen der Positiven Psychologie und später mit der Entwicklung der Transpersonalen Psychologie statt. In diesen Strömungen wurden das Höhere Selbst und die Überbewusstheit wieder als wesentliche Aspekte für das menschliche Wachstum und Wohlbefinden betrachtet. Der Fokus verlagerte sich auf Erfahrungen wie den Flow, Peak Experiences und die Suche nach Erleuchtung – Themen, die Maslow und andere in ihre Arbeit über das volle menschliche Potenzial integriert haben.


Die neueren körperorientierten Psychologien, wie Core Energetics (eng verwandt mit der Bioenergetik) und das Bodynamic-System, die sich teilweise außerhalb des neoreichianischen Einflusses entwickelten, haben die Spiritualität wieder in die Körperarbeit integriert. Diese Disziplinen nähren sich oft an östlichen Praktiken wie Yoga und Tai Chi, betonen die Integration von Körper, Geist und Seele und stärken die Verbindung zwischen körperlicher Achtsamkeit und spirituellem Wachstum.


Schließlich greift die jüngste psychologische Welle, die eng mit den technologischen Fortschritten in den Neurowissenschaften verbunden ist, auf alte Konzepte der Erleuchtung und der Gipfelerfahrungen zurück und vertieft diese. Moderne Forschung zu Flow-Erfahrungen und Studien über die Geisteszustände von Mönchen und Yogis erhalten bereits viel Aufmerksamkeit. Es ist wahrscheinlich, dass diese Untersuchungen bald erweitert werden, um neue wissenschaftliche Modelle zu entwickeln, die das Höhere Selbst und die Überbewusstheit erklären und eine integrierte Sicht auf Geist, Körper, Seele und Technologie bieten.

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